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Meinung
 Ich bin kein
Spieletester!
Ein Kommentar von HARALD SCHRAPERS
Die Berufe der Eltern sind ein beliebtes Gesprächsthema im Kindergarten. „Mein Vater ist Ganzmacher“, sagt das eine Kind. „Mein Vater ist Feuerwehrmann“, entgegnet das an-
dere. Mein Sohn – es ist schon viele Jahre her – reagierte mit gewissem Stolz: „Mein Vater ist Spieletester.“
Ob diese Aussagen wirklich korrekt waren, darf wohl mit Fug und Recht bezweifelt werden, insbesondere beim Feuerwehr- mann. Hauptsache war für die Kinder eh etwas anderes: Papas Beruf musste sich gut anhören. Und selbst das mit dem „Spiele- tester“ war nicht ganz richtig, mit Brettspielen bin ich nur neben- beruflich befasst. Und genau genommen bin ich sowieso kein Spieletester – aber diesem Missverständnis unterliegen auch vie- le Erwachsene. Fakt ist: Ich bin Spielekritiker. Ist das überhaupt ein Unterschied? Ja, ein großer!
Die Tätigkeit eines Warentesters will ich gar nicht infrage stel- le. Ob eine Waschmaschine für porentiefe Reinheit sorgt und ob die diversen Öffnungen und Klappen auch nach dem hunderts- ten Waschgang nicht abbrechen und nicht ausgeleiert sind – das will ich vor einer Neuanschaffung gern wissen. Und ein guter Test gibt mir wahrscheinlich eine recht objektive Antwort auf die- se Frage. Wie es mit der Dauerbeschaffenheit von Spielkarten aussieht, ob die kunstvollen Pop-ups von Wonder Book auch beim zigsten Durchspielen noch intakt sind und ab wann die Ad- ventskalender-Idee aus Die Abenteuer des Robin Hood vollends unspielbar ist: Darüber gibt die spielbox keine Auskunft. Denn sie ist kein Testmagazin. Diesen Aufwand könnten wir gar nicht
Spielreiz besteht nicht aus
bezifferbaren Teilmengen.
Er speist sich aus ganz
unterschiedlichen Quellen.
leisten – und wollen wir auch nicht. Denn unsere Leserinnen und Leser möchten in allererster Linie wissen, wie es um den Kern eines Spiels bestellt ist. Äußerlichkeiten sind zwar auch interes- sant, aber letztlich eher nachrangig.
Selbstverständlich merkt auch ein Spielekritiker, ob bei einem Pöppel schon während der Erstpartie die Farbe abblättert, er gar nicht auf das vorgesehene Feld passt oder etwas anderes klar fehlerhaft ist. Auch eine unverständliche Anleitung oder ein nicht erfüllbares Spielziel sind objektiv feststellbare Tatsachen, die schnell erkannt werden. Aber meine Hoffnung ist jedes Mal: Die Neuheit auf meinem Tisch ist bereits ausreichend getestet. Das Testen, damit ein Spiel funktioniert, ist Aufgabe der Verlage und derer Redaktionen. Mein Job ist das nicht.
Eine Literaturkritikerin kümmert sich nicht um die im E-Book- Reader angezeigte Schriftart oder um Papierbeschaffenheiten. Eine Theaterkritikerin testet nicht die Zugänglichkeit der Notaus- gänge des Schauspielhauses, sondern sie wirft ihren Blick auf die Bühne. Und genauso sollte es auch ein Spielekritiker machen. Er hat kein Klemmbrett, auf dem er die Testpositionen abhakt. Selbst auf einen Kriterienkatalog sollte er verzichten. Noten für Grafik, Anleitung, Ausstattung und Idee vergeben, gewichten, addieren
– 83,5 von 100 Punkten für Cascadia? Nein, das ist keine Spielekritik. Sondern es gaukelt nur vor, bei einem Brettspiel könnte es ein messbares Testergebnis geben. Spielgefühl be- steht nicht aus bezifferbaren Teilmengen. Der Spielreiz speist sich aus ganz unterschiedlichen Quellen – natürlich aus der Mechanik, teils aus Äußerlichkeiten wie der Illustration, vor allem aber aus dem, was zwischen den Spielenden am Tisch passiert. In der Hinsicht ist die Tätigkeit einer Spielekritikerin umfassender als die einer Buch- oder Filmrezensentin. Letztere können sich zu einhundert Prozent auf ihre eigenen subjek- tiven Eindrücke beschränken. Die Brettspielkritik kann hin- gegen niemals ohne die Interaktion mit anderen Menschen
entstehen. Optimalerweise sogar mit möglichst unterschiedlichen Spielertypen und nicht nur mit der einen Gruppe, die ich schon längst nach meinem Geschmack geformt habe.
Das Ergebnis ist eine Spielebesprechung und keine Testtabelle – eine Kritik, die in Worte und Sätze fasst, was wir während einer Partie erleben. Dazu gehört auch die Analyse von Mechanik und Material, in erster Linie aber die Wirkung auf die Spielenden: Es muss herausgearbeitet werden, was ein Spiel an Herausforderun- gen bietet, welche Emotionen es warum auslöst. Denn das ist es, was uns an einem Gesellschaftsspiel fasziniert. Am Ende der Rezension findet sich in der spielbox eine zusammenfassende Note als maximal komprimiertes Fazit der Kritik – und keinesfalls als Testergebnis.
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    Fotos: Daniel Elke, Schrapers















































































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