Page 26 - Spielbox_1_2022_gesamt
P. 26

Kritik. Canvas
  Die Enthüllung des Spiels
 Ich erinnere mich noch gut, wie ich als Schülerin vor der Staffelei stand und Landschaften, Brummkreisel und nackte Menschen malte. Ja, ich hatte tatsächlich Aktzeichnen als Unterrichtsfach und habe sogar für meinen Schulabschluss unter Zeitdruck hüllenlose Körper großflächig auf Karton verewigt. Das Ganze lief jedoch nüchterner ab, als
man sich das vorstellt, das Erfassen
von Achsen und Proportionen erfordert höchste Konzentration. Am Ende jeder Einheit wurden alle Werke aufgehängt und gnadenlos kritisiert. Quasi das „Germany‘s Next Topmodel“ der Kunstwelt. Allerdings habe ich als Schülerin nie auf Leinwand gemalt, daran habe ich mich erst vorletzten Sommer versucht. Aber dann kam irgendetwas mit YouTube und Brettspielen dazwischen und so trägt der große Keilrahmen mit der westafrikanischen Atlantikküste vorerst den Titel „Das Unvollendete“. Zum Glück gibt es jetzt ein Spiel, bei dem ich mir zumindest einbilden kann, ich würde weiter malen.
 Von MARIE POENISCH
Bei Canvas erschaffen die Spielen- den im Laufe einer Partie anlässlich eines Kunstfestivals drei Gemälde
nach folgendem Rezept: Man nehme eine durchsichtige Hülle, einen impressionis- tisch getupften Hintergrund und füge drei mit Bildelementen und Symbolen bedruckte Folien hinzu. So einfach kann Kunst sein. Ein klangvoller Titel wie „Die Harmonie der Finsternis“ oder „Die Be- freiung der Neugierde“ wird gratis mit- geliefert.
Leider bringen an Angelruten hän- gende Sushi-Stücke und malerische Tür- me keine Punkte, denn in Canvas geht es nicht um schöne Bildkompositionen, sondern um geschicktes Kombinieren der Symbole am unteren Kartenende. Wie viele der begehrten Abzeichen ein Kunst-
werk einbringt, hängt davon ab, wie gut es die vier ausliegenden Wertungskarten erfüllt. So belohnt die „Vielfalt“ für ein Set aus allen vier Elementen und die „Ge- staltung“ ist erfüllt, wenn alle Farbkleckse abgedeckt sind.
Im Einstiegs-Szenario will man am liebsten von allen Farben und Symbolen etwas, mit einem leichten Überschuss an Dreiecken. Dieses Idealbild ist aber oft unerreichbar, schließlich hat die rest- liche Spielrunde ähnliche Pläne und die verfügbaren Karten sind sowieso Zufalls- sache. Da ist vielleicht auch mal eine Spe- zialisierung auf Dreiecke und Bonussym- bole nötig, um das Gesamtwerk zu retten und doch noch an ein paar Abzeichen zu kommen.
In jedem Spielzug lässt man seinen Blick über die fünf ausliegenden Kunst- karten auf dem Spieltuch schweifen und
legt im Geiste probeweise Folien überein- ander. Kostenlos ist nur die Karte ganz links, für alle anderen müssen Inspira- tionsmarker investiert werden, das lohnt allerdings nur bei attraktiven Karten.
Spätestens bei fünf Kunstkarten auf der Hand ist dann die Stunde der Wahrheit gekommen, und es wird nach besagtem Rezept ein Gemälde zusammengesteckt.
Oft werden schnell noch verschiede- ne Kombinationen ausprobiert, weil die Planung plötz- lich doch nicht so fehlerfrei war und dieses eine wichti- ge Symbol immer verdeckt wird. Ist dann schließlich die
24   spielbox
  Fotos: Becker, iStock.com/ZaharovEvgeniy , Poenisch
 

















































































   24   25   26   27   28