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 Essay. Hausregeln
   altbekanntes Lieblingsspiel als neu und frisch zu empfinden.
Für einige Spiele sind Haus-
regeln gar die letzte Rettung
vor dem Flohmarkt. Eine Spiel-
gruppe kam bei Anno 1800
von Kosmos mit der Ungewiss-
heit über das Spielende über-
haupt nicht klar. Das vorgese-
hene „plötzliche Ende” hat alle Beteiligten schlicht gestresst und „kein gutes Spielgefühl” hinterlassen. Da aber alle großen Spaß an der Thematik und den vielen anderen Mechaniken hatten, einigten sie sich kurzerhand darauf, vorher die Anzahl der Spielzüge festzulegen. Somit war allen jederzeit klar, wann das Spiel vorbei sein wird, und alle konnten ihre eigene Planung darauf einstellen. Dass damit eine von meh- reren möglichen Siegstrategien komplett wegfällt, war und ist dieser Gruppe egal. Die vom Autor Martin Wal- lace erdachte Spielweise empfand schlicht niemand in dieser Runde als reizvoll. So durfte das Spiel im Regal bleiben und sei sogar das Lieblingsspiel des aktuellen Jahrgangs dieser Gruppe geworden.
I Hausregeln? Ohne mich!
Für mich als Spielekritiker wäre eine Partie mit einer so starken Abwandlung undenkbar. Mein Ziel ist es, Spiele und ihre Mechaniken mit möglichst vielen unterschiedlichen Gruppen zu erleben, um danach in einer Kritik möglichst pointiert die Stärken und Schwä- chen herauszuarbeiten. Für diese Aufgabe ist es wich- tig, dass die Regeln als feste Konstante immer gleich bleiben. Fehler auszubessern ist nicht meine Baustelle. Doch nicht nur Kritikerinnen und Kritiker pochen auf Regelkonformität. „Mit Hausregeln habe ich das Ge- fühl, dass ich ein anderes Spiel spiele und nicht so, wie es von der Autorin oder dem Autor gedacht ist. Brett- spiele sind ein Kulturgut. Dementsprechend möchte ich mich erstmal auf die Kunst derer, die das Spiel geschaffen haben, einlassen. Wenn mir das nicht ge- fällt, greife ich nicht zu Hausregeln, sondern zu einem anderen Spiel”, erzählt der Vielspieler Thomas Söhner aus Freiburg, der solche Titel dann wieder verkauft, statt sich über Verbesserungen Gedanken zu machen.
Spieleautorin Rita Modl
Was macht das eigentlich mit Autoren und Autorin- nen, wenn sie von Hausregeln zu ihren Spielen hören? Fühlen sie sich gar gekränkt, wenn die Regeln an den Tischen der Republik „falsch” gespielt werden?
Rita Modl (Men at Work) hat damit „überhaupt kein Problem”, denn: „Das mache ich seit meiner Kind- heit auch ständig selber bei anderen Spielen”, gesteht sie lachend. Sie nutzt Hausregeln auch ganz pragma- tisch zum Beispiel auf Messen, um ihre eigenen Spiele als „Kurzversion” möglichst vielen Menschen beizu- bringen. Eine Grenze zieht sie beim privaten Spielen von Experten- und Strategiespielen, bei denen die Ge- fahr besteht, zu stark in die Balance einzugreifen.
Einen besonderen Stellenwert haben Hausregeln für Paleo-Autor Peter Rustemeyer. Er ist dadurch sogar erst auf die Idee gekommen, selber Spiele zu entwi- ckeln, erzählt er: „Ich habe früher sehr viele Tabletops gespielt, die waren teilweise völlig unausgewogen. Wir haben dann immer wie die Verrückten daran he- rumgeschraubt, damit sie fairer werden.” Daraufhin hat er angefangen, mit seinen Freunden eigene Ta- bletopsysteme zu erfinden. „Irgendwann hab ich ge- dacht: Jetzt habe ich schon so viel geändert, da kann ich auch gleich von null anfangen.”
Dass seine Spiele mit Hausregeln gespielt werden, stört ihn nicht: „Natürlich würde ich mir wünschen, dass die Spiele so gespielt werden, wie ich sie mir ausdenke. Aber ich verstehe das, mache ich ja selber auch.” Als Autor könne er sowieso nicht anders, da er ständig „on the fly” kleine Regelverbesserungen im Kopf hat, wenn er neue Spiele kennenlernt und diese dann ausprobiert: „Da bin ich vielleicht ein bisschen arrogant als Autor, dass ich dann oft denke, das macht doch so viel mehr Sinn.”
Egal, wen man fragt: Hausregeln sind aus dem Hobby als fester Bestandteil der Spielerfah- rung nicht wegzudenken. Brettspiele besitzen einen großen Vorteil gegenüber Videospielen, die sich nur mit Programmierkenntnissen oder externen Tools anpassen lassen. Mit einfachen Mitteln und minimalem Aufwand werden Karten- und Gesellschaftsspiele zu „unserem” Spiel und lassen sich formen und an den eigenen Geschmack anpassen. Mit ein wenig Kreativität werden Spiele inklusiver, bringen noch mehr Menschen ins Hobby oder verlän- gern die Lebenszeit eines vermeintlich durch- gespielten Titels. Oder um es mit der Ludolo- gin Langstrumpf zu sagen: „Ich mach‘ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt . . .”
„Hausregeln mache ich seit meiner Kindheit auch ständig selber bei anderen Spielen.“
   Mit fester Rundenanzahl – ohne diese Hausregel wäre Anno 1800 in dieser Runde durchgefallen.
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