Page 54 - Spielbox 05/17 Deutsch
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Zufallsfaktoren spielen hier generell eine eher untergeordnete Rolle.
Andererseits taugt Rise of Totalitaria- nism nur bedingt als Modell, um zu zei- gen, was hätte geschehen können. Durch die historisch akkuraten Voraussetzun- gen, auf denen das Spiel basiert, also die jeweilige Finanzkraft sowie
Art, Anzahl und Werte von Anführern und Aktionsmar- ken ist der Ablauf geskrip- tet. Ganz zu schweigen von den Werten und Ereignissen der Aktions- und Krisenkar- ten. All dies vermittelt ein Gefühl für die zugrundelie- gende Epoche, stellt aber vor allem eines sicher: dass das, was war, auch im Spiel geschehen kann.
Auf das Warum wird kei-
ne hinreichende Antwort gegeben, ob- schon der Autor kaum einen Parameter unberücksichtigt ließ. Dass die teilweise marginalen Unterschiede zwischen den Regionen, Nationen und Bevölkerungs- gruppen unverzichtbar sind, darf ebenso bezweifelt werden wie die Notwendigkeit etlicher Regelungen. So ist die Bedienung der deutschen Reparationsverpflichtun- gen an England, Frankreich und die USA von der Wirtschaftslage abhängig; ihre Aussetzung kann einen französischen Ein- marsch ins Rheinland bewirken, worunter wiederum die Wirtschaftslage leidet. Dann resultiert aus den Wahlen nicht nur die Regierung, sondern auch die Zusam- mensetzung des Parlamentes. Es ist in beiden Ländern Änderungen unterworfen und muss manche Kartenereignisse be- fürworten.
I Rekordverdächtige Unübersichtlichkeit
Wenn es stimmt, dass ein gutes Spiel
nicht durch Hinzufügen, sondern durch Weglassen entsteht, ist dieses hier sauschlecht. Jeder Redak-
teur, der auch nur halbwegs
bei Sinnen ist, würde zwei Drittel der teils geradezu barocken Mechanismenviel- falt streichen – wobei der Abfall sicher noch für min- destens ein weiteres Spiel taugte. Nicht nur das Feh- len einer redaktionellen Hand ist ein Problem, son- dern auch, dass der Autor
zugleich der Grafiker ist. Das Spiel mag einige attraktive, wenn nicht gar hübsche Seiten haben, etwa die Hutformen, durch welche die Bürgergruppen symbolisiert werden. Doch das rettet den Gesamtein- druck nicht. Vor allem die Spielkarten sind bei allem historischen Flair eine Katastro-
Von gleichen Autor erscheint zur SPIEL ’17 Democracy under Siege (s. S. 26), dem der spanische Verlag 4 Dados zumindest eine grafische Überarbeitung hat ange- deihen lassen. Dort soll demnächst auch Rise of Totalitarianism herauskommen. Vorher sollte man keinen Erwerb in Erwä-
gung ziehen. Derzeit ist das Spiel aus den USA vom Game on De- mand-Hersteller The Game Craf- ter in einer schlecht gemachten und überteuerten Ausgabe zu beziehen, bei der noch nicht ein- mal das für den Aufbau der drei Szenarien unverzichtbare Play- book mitgeliefert wird (wie die Anleitung ist es aber im Netz ver- fügbar). Es muss ja nicht Ludo Fact sein, für China-Qualität wäre man hier schon dankbar. Der Spielplan ist derart unbeholfen
von Hand aufgezogen, dass ein hässlicher schwarzer Rand seine beiden Hälften trennt. Während an den Spielkarten nichts auszusetzen ist, sind die großen Pappmarken lasergeschnitten. Wegen der dabei offenbar unvermeidlichen Kohle- reste an den Kanten läuft Gefahr, sich das sonstige Material sowie Tischdecke, Klei- dung etc. zu ruinieren, wer nicht jede Mar- ke sorgsam putzt.
Aber egal. Ohnehin dürfte diese Ausga- be nur durch den Zoll bekommen, wer journalistisches Interesse nachweisen kann. Dabei wäre das Spiel bei gewissen- hafter Vorbereitung sicher auch für den Schulunterricht in der Oberstufe geeig- net. Und sei es nur, weil man lernen kann, das der Faschismus nur Einzug halten konnte, weil die anderen sich nicht einig waren. Matthias Hardel
fe, was Struktur und Ikonographie angeht. Der Spielplan erschlägt einen förmlich durch den Sack an Informationen, der über ihm ausgegossen wurde, von der ei- genwilligen Kartographie mal ganz abge- sehen. Beim ersten Anblick konnte ich ob dieser rekordverdächtigen Unübersicht- lichkeit meinen Augen kaum trauen. Ich habe tatsächlich schon Rohrleitungsplä- ne von großen Containerschiffen gese- hen, die einfacher zu überblicken waren. Eine höhere Einstiegshürde habe ich kaum jemals erlebt. Wenn man irgend- wann alles irgendwo erwähnt findet, liegt das Kind schon im Brunnen.
Erst nachdem eine Urlaubslektüre (Adam Toozes großartige Abhandlung Sintflut - Die Neuordnung der Welt 1916– 1931) mein Interesse für die Epoche wei- ter angefacht hatte, machte ich mich ernsthaft daran, das Ganze in den Griff zu bekommen – anfangs mit bescheidenem Erfolg. Mehr als eine Gruppe ging schon nach der Erklärung von der Fahne, und manch einer wollte – scheint’s – lieber das Klo putzen, als noch einen weiteren
Zug machen. Mich je- doch reizt Rise of To- talitarianism mit zu- nehmender Vertraut- heit immer mehr, und glücklicherweise habe ich Mitspieler, die zu weiteren Partien be- reit sind. Dieses Spiel zu beherrschen grenzt an eine sportliche He- rausforderung.
Titel: Verlag: Autor: Grafik: Spieler: Alter: Dauer: Sprache: Preis:
Rise of Totalitarianism Calvinus Games
Luca Cammisa
Luca Cammisa
3
ab ca. 14 Jahren ca. 3–8 Stunden Englisch
ca. $76
Kritiker Spielreiz
Matthias Hardel* . . . . . . . . . . . . . 8
* Trotz aller Probleme und Schwächen.
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