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KRITIK
Rise of Totalitarianism
Barocke Vielfalt
Ob es sich bei „mögest du in interessanten Zeiten leben“ um einen segensrei- chen Wunsch oder einen Fluch handelt, ist ungewiss – zumal es für diese Rede- wendung im Chinesischen, aus dem sie stammen soll, kein Äquivalent gibt. Für die goldenen Zwanzigerjahre der Weimarer Republik wäre beides angemessen. Politisch interessante Zeiten waren sie ohne Frage, weshalb Luca Cammisa diese Periode wohl auch in einem Spiel verarbeitet hat. Ob es sich beim Ergebnis um einen Fluch oder einen Segen handelt, muss jeder selbst entscheiden.
und Faschismus. Dabei kann er zugleich in Italien und in Deutschland tätig wer- den, was die Sache nicht übersichtlicher macht.
Ziel sind letztlich Siegpunkte, die zum wesentlichen Teil daraus resultieren, in diesen beiden Staaten die Regierung zu stellen. Im Fall von Kommunismus und Faschismus ist es besonders einträglich, Wahlen abzuschaffen und ein totalitäres Regime zu installieren, nachdem die be- treffende Partei auf demokratischem Weg ins Amt gehievt wurde. Falls die Wirt- schaft nicht völlig am Boden liegt, kann ein Regime nicht beseitigt werden.
Damit es nicht zu einfach wird, hat der Autor es sich nicht nehmen lassen, auch das Umfeld der beiden Hauptprotagonis- ten einzubeziehen. So können die Ideolo- gien auch in Osteuropa, auf dem Balkan und auf der iberischen Halbinsel agieren, um dort punkteträchtige Regimes ihrer Couleur zu etablieren.
Handwerkszeug sind Aktionsmarken, deren Einsatz mit aus Karten resultieren- den politischen Punkten bezahlt wird. Was man sich leisten kann, wird in einem Rutsch verdeckt platziert, sobald man an der Reihe ist. Nach dem anschließenden allgemeinen Aufdecken führt jeder reih- um eine Markenaktion aus, bis alle abge- handelt wurden.
Allgemeinen Wahlen geht gemeinhin die Beeinflussung der stimmberechtigten Bürger voraus, wie man es aus Die Ma- cher und praktisch jedem anderen Wahl- spiel kennt. Bei Rise of Totalitarianism gehört das Wahlvolk zu sechs bzw. sieben
Mit dessen Charakterisierung als Mischung aus Churchill (sb 2/16) und Twilight Struggle
(sb 3/06) traf Cammisa jedenfalls den Nerv des Rezensenten – und nervte die Kollegin in Bamberg, deren Engelszungen erforderlich waren, um das Spiel den Hän- den der örtlichen Zollstelle zu entwinden. Offensichtlich nicht für den Verkauf im nördlicheren der beiden im Fokus stehen- den Länder gedacht, pranken Mussolini und Hitler auf dem Cover – in bester De- magogenpose flankiert von Hakenkreuz- flaggen. Für manchen potenziellen Inter- essenten dürfte allein das zu viel sein (s. a. S. 1). Andere sind willens, über derar- tige Ignoranz der hiesigen Gesetzeslage hinwegzusehen, wie sie bei Avalon Hill- oder SPI-Spielen früher oft genug vorkam. Glücklicherweise ist davon auszugehen, dass sich Rise of Totalitarianism nicht an Fascho-Dumpfbacken richtet, denn die würden daran scheitern. Dasselbe blüht allerdings auch gestandenen Spieleex- perten.
Es fängt schon damit an, dass Rise of Totalitarianism ausschließlich zu dritt funktioniert. Um herauszufinden, was der
Autor wohl im Schilde führte und um die Zusammenhänge bei Bedarf besser erklä- ren zu können, habe ich es mehrmals mit mir allein gespielt, doch ist dies außer zu eben jenem Zweck nicht zu empfehlen.
I Kartengetriebenes Wahlspiel
Es endet lange nicht damit, dass für
eine Partie drei bis acht Stunden zu veran- schlagen sind, was auf der Schachtel wahrheitsgemäß angegeben ist. Hinzu kommt eine halbe Stunde Regelerklä- rung, nach der die wenigsten – unter Ber- liner Spieleverlegern und -autoren gibt es Ausnahmen – sinnvoll losspielen können. Nach einer Stunde und den ersten beiden Aktionsphasen werden die Zusammen- hänge dann klar, und die eine oder ande- re Augenbraue hebt sich voller Ehrfurcht darüber, was der Autor sich – und uns – hier zugemutet und welche Erzählstränge er miteinander verflochten hat.
Rise of Totalitarianism ist ein kartenge- triebenes Wahlspiel, bei dem jeder Teil- nehmer eine von drei Politikrichtungen bzw. Ideologien repräsentiert: Sozialde- mokratie, Kommunismus
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