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 Kritik. Der perfekte Moment
  Seit meiner ersten Brownie Nr. 2 von Eastman war klar, dass Say Cheese! ein anderer Beruf als Fotograf für mich nicht in Frage kam. Als ich dann die Anzeige von Eliot Siegel las, dass er einen
Von WIELAND HEROLD
Man kann es nicht anders sagen: Siegel setzt die Standards. Mit seiner Unterstützung bin ich si-
cher bald Porträtfotograf in London. Sie können sich nicht vorstellen, wie groß mein Entsetzen war, dass drei weitere In- teressenten die Anzeige gelesen hatten und vor dem Foto-Studio warteten.
Siegel schien erstaunlich erfreut über gleich vier Bewerber. „Liebe Freunde!“, begrüßte er uns, „das passt fantastisch. Ich habe gestern einen Großauftrag der Mountbattens hereinbekommen. Der Marquess of Milford Haven möchte mög- lichst schnell vier Familienporträts erhal- ten, eines davon vor den Felsklippen von Dover, eine weitere Landschaftsaufnah- me hier in Cornwall und dann noch zwei Innenporträts im Anwesen der Familie.“
Mit der neuesten Rolleiflex von Franke & Heidecke schickte er uns los. Der Job sollte an den fallen, mit dem die Mount- battens besonders zufrieden waren. Sie- gel warnte uns noch vor eventuell „ex- zentrischen Wünschen“ der Familie. Das
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Gehilfen suche, fand ich mich sofort in der Paradise Road ein.
erwies sich als arg untertrieben. George Mountbatten und seine Gattin, die Gräfin Nadja, fühlten sich eher zum eigenen Ge- schlecht hingezogen und wollten beide ihre Geliebten mit auf dem Bild haben. Insbesondere die Amerikanerin Gloria Vanderbilt drängte sich immer in den Vordergrund. Auch Elizabeth und David, die Kinder von George und Nadja, hiel- ten nichts von Etikette, tauchten einmal neben der großen Zimmerpalme, dann wieder hinter Aristoteles, ihrem gelehri- gen Hündchen, auf.
Zwölf Mitglieder der Familie und Freun- de des Hauses mussten nebst Palme und Aristoteles arrangiert werden, und das am Strand von Dover. Vom Wetter war ich damit auch abhängig, aber noch mehr von den speziellen Wünschen der Betei- ligten. Am Tag des Fototermins lagen mir gerade einmal drei Wunschbriefe vor.
Als ich diese Briefe öffnete, verschlug es mir die Sprache. Da hatte ich nur drei Schreiben, und in jedem steckten drei ganz spezielle Anliegen, die zum Teil wi- dersprüchlich waren. Was war das denn für eine Familie? David zum Beispiel woll-
te einerseits von keinem Gast auf dem Foto verdeckt werden, andererseits sollte sein Gesicht nicht zu sehen sein. Puh! Was den Rest der Meute anging, tappte ich erst einmal im Dunkeln.
Zum Glück ging es meinen Konkur- renten genauso. Neben der schwierigen Familienaufstellung fanden wir Zeit, ein paar unserer Briefmappen auszutau- schen. Zwei lagen sogar im Sand herum, die wir in diesen Tausch mit einbezogen. Leider ließen sich die Stellwünsche nur im Gesamtpaket tauschen. So blieben meh- rere unlösbare Konflikte wie der Davids bestehen. Nach sechs Tauschaktionen und einer ungefähren Erinnerung an das, was die Familie haben wollte, kam end- lich Siegels Rolleiflex zum Einsatz. Immer- hin verhielten sich beim Foto alle diszipli- niert, als ich sie endlich mit „Say Cheese!“ zum Lächeln brachte.
Die Stunde der Wahrheit schlug dann zwei Tage später, als alle Fotos entwickelt vorlagen und Eliot Siegel sie mit den Wunschvorstellungen der Mountbattens abglich. Er hatte sich dazu ein diffiziles Punktesystem ausgedacht. Kandidaten,
  Fotos: Becker, Herold, iStock.com/ZaharovEvgeniy



















































































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